Sonntag, 23. September 2012

Manifesta

So eigenwillig eine Ausstellung auch sein mag – an einer Bedingung kommt keine vorbei: Ortsspezifisch muss es sein. Diesen bisweilen großzügig ausgelegten Anspruch erfüllt die 9. Manifesta so präzise wie umfassend.

Eine Bodenarbeit aus Robert Smithson's Serie der Non-Sites ist Teil und Sinnbild der traditionell lokal ausgerichteten Wanderausstellung, die diesmal von der vom Steinkohlebergbau geprägten Region im belgischen Limburg ihren Ausgangspunkt nimmt.

Durán | Miner's heads | 2012
 In den Non-Sites fasste Smithson die Beziehung zwischen ausstellendem Rahmen und ausgestelltem Gegenstand zusammen: Site ist der Ort im Außenraum, in den der Künstler eingreift; Non-Site ist die Form, die dieser Ort im Kontext seiner Repräsentation annimmt. Folglich arrangierte Smithson Rohmaterial - im vorliegenden Fall Steinkohle - in industriell gefertigten Metallboxen, wodurch amorphe und kristalline Strukturen sich zu natürlich synthetischen Skulpturen verbinden, und der sperrige Rohstoff unter institutionellen Bedingungen dargeboten wird.

Gronbach | was ver-, be-, entsteht | 2012
 Die Transformation von Natur im kulturellen Umfeld beschäftigt auch Smithsons Land Art-Kollegen wie Richard Long, dessen charakteristisches Geröllfeld hier ebenfalls aus Kohle besteht. Dem Beitrag der Kohleindustrie bei der Erzeugung und Zerstörung von Kultur und Natur nähert sich die Biennale im 1924 errichteten Hauptgebäude einer ehemaligen Mine aus drei Perspektiven. Neben 39 zeitgenössischen Arbeiten aus bildender Kunst, Film und Performance zeichnet eine kunsthistorische Sektion die Entwicklung des Kohlebergbaus als Gegenstand der Grafik und Malerei seit der Romantik nach, während die dritte Abteilung die soziokulturelle Entwicklung der Bergarbeiter-Region dokumentiert.

Vautequenne | Waterschei mine | 1927


Der sich so ergebende rhythmische Wechsel von Bildfasten und Augenschmaus entzerrt den potentiellen Informations-Overkill, zumal die vier Stockwerke des kathedralenartig dimensionierten Art déco-Baus sowohl kleingedruckten als auch monumentalen Exponaten ihre Schutzzonen und Hoheitsgebiete zugestehen.

Die Veranschaulichung abstrakter Prozesse von Produktion, Distribution und Zerstörung industrieller Produkte gelingt mittels einer Flotte buchstäblich zwischengelandeter Gebetsteppiche der in den 50er und 60er Jahren angeworbenen 'Gastarbeiter' ebenso wie mit freundlicher Unterstützung einer Ameisen-Kolonie. Während Magdalena Jitrik die Aufbruchstimmung des revolutionären Russlands in einer multimedialen Installation beschreibt, beschränkt sich der Kommentar der Gruppe Claire Fontaine zum Ende der Sowjetunion auf die Rekonstruktion der optimistisch farbenfrohen Neonschrift, die einst 'das Haus der energetischen Kultur' im bei Chernobyl gelegenen Pripyat zierte.

Magdalena Jitrik | Revolutionary Life | 2011 - 2012


Beim Publikum führt eine diffuse Ahnung der Einbindung in von unbekannter Seite gesteuerte Abläufe zur Identifikation mit Ante Timmermans, der inmitten eines Käfigs aus Tonnen geduldig wartenden Papiers mit quälender Gewissenhaftigkeit ein Blatt nach dem anderen stempelt und locht, wobei er einen Konfettihügel produziert. Angesichts der vom Fenster aus sichtbaren Abraumhalden ließe sich der langsam wachsende Kegel als Migration der Form bezeichnen, oder als postindustrielle Variante der Königstochter inmitten des Strohs, das sie zu Gold spinnen soll. Die hier manifeste Aussichtslosigkeit entfremdeter Arbeit nimmt auch in Ni Haifengs hallenfüllender Mitmach-Aktion groteske Gestalt an, wo sich eine so majestätische wie lächerliche Kaskade wahllos aneinander genähter Fetzen auf ein Gebirge weiterer Textilreste senkt. Einzelnen, die das Ihre zum Gemeinwohl beizutragen wünschen, steht eine ganze Produktionsstraße funktionstüchtiger Nähmaschinen zur Verfügung.

Ni Haifeng | Para-Production | 2008 - 2012
Eine solch ästhetische Erfahrung unbewussten Handelns ermöglicht auch Nemanja Cvijanovićs Ermunterung zur Betätigung einer unprätentiösen Spieluhr, woraufhin leise Die Internationale erklingt. Erst später und damit zu spät, wird das jeweilige Opfer – vielmehr Täter – feststellen, dass die arglose Einwilligung zum Gehorsam gegenüber einem undurchschaubaren System dazu führt, dass Verstärker im Außenbereich die Botschaft verlautbaren. Durchschnittlich drei Personen pro Minute werden auf diese Weise zu unwissenden Rädchen im Getriebe, die die Völker auf der Terrasse zum Hören der Signale nötigen. Sie wird der redundante Pep-Talk weniger zum letzten Gefecht inspirieren, als vielmehr dazu, über die räumlich und zeitlich entfernten Konsequenzen des eigenen Tuns früher nachzudenken als es während der Industrialisierung nebst ihrer Spätfolgen geschah.

Charlotte Lindenberg

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